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Gedanken zur jüdischen Musik anlässlich SHALOM-MUSIK.KOELN

TOVTE Foto: Kay-Uwe Fischer

TOVTE Foto: Kay-Uwe Fischer

von Thomas Höft, künstlerischer Leiter SHALOM-MUSIK.KOELN

Musik von jüdischen Komponisten prägt die Musikgeschichte weltweit. Das gilt nicht nur für Klezmer und Synagogalmusik, sondern vor allem für die große Breite der weltlichen Musik, von der Oper bis zum Jazz, von der Klassik bis zum Pop.

SHALOM-MUSIK.KOELN - Ein Tag mit jüdischer Musik schafft Begegnungen mit jüdischer Musikkultur und Musikstilen an ausgesuchten Orten in Köln. Denn 2021 wird 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert. Ein Jubiläumsjahr, das seinen Ursprung in Köln hat.

Hinter SHALOM-MUSIK.KOELN  - ein Tag mit jüdischer Musik verbirgt sich eine abwechslungsreiche Entdeckungsreise, die insbesondere die Vielfalt der jüdischen Musikgeschichte in den Blick nimmt. 47 Musiker*innen, 40 Kurzkonzerte an 12 Spielorten - bei freiem Eintritt -  bieten Ausschnitte von jüdischen Musikstilen und Kompostionen. 

Der Straßentheaterkünstler Adrian Schvarzstein mit jüdisch-argentinischen Wurzeln wird bei SHALOM-MUSIK.KOELN von einem Klezmer-Duo begleitet. „Das Wort Klezmer besteht aus den zwei hebräischen Wörtern ‚Kli‘ und ‚Zemer‘. Sie bedeuten übersetzt ‚Instrument des Liedes‘. Der Körper ist das Instrument des Liedes, um mit einer Stimme eine Sprache auszudrücken, die wir Musik nennen. Das ist die wahre Bedeutung des Begriffs Klezmer. Klezmer hat nichts mit Religion zu tun.“ so der renommierte Klezmermusiker Giora. Klezmer ist demnach im Ursprung reine Unterhaltungsmusik. Zwar haben die Musiker verschiedener Generationen immer wieder bekannte Phrasen eines Chasan aufgegriffen und ihrer Musik anverwandelt, aber diese Melodien sind ihres geistlichen Gehaltes völlig entkleidet. Hinzu kommt, dass Klezmer bis heute Instrumentalmusik ist. Wenn die menschliche Stimme überhaupt zum Einsatz kommt, dann im melismatischen Gesang ohne Text. Hauptinstrument der Klezmorim, also der umherziehenden Musiker, war lange Zeit die Violine. Im 19. Jahrhundert allerdings verdrängte die moderne Klarinette die Geige als Hauptinstrument der Klezmorim. Heute ist Klezmer Teil des Weltmusik-Genres und außerordentlich populär. Bei SHALOM-MUSIK.KOELN wird auch die Kölner Musikgruppe Tovte mit einem ganzen Klezmerprogramm zu hören sein, in dem sie Elemente der klassischen Klezmermusik mit Tangoelementen mischen.

Ein Gegengewicht zu Klezmer bilden mittelalterliche Lieder des Dankes und Lobes, die Piyyutim (Hymnen), die seit dem 6. Jahrhundert eine herausragende Quelle jüdischer Poetik sind. Ursprünglich waren die Piyyutim inhaltlich freie Ergänzungen zu den festen Gebeten in den Synagogen. Oftmals waren sie aber so beliebt, dass sie die traditionellen Gebete fast verdrängten, denn in ihnen wurden auch aktuelle Themen behandelt. Ein Chasan hatte im späteren Mittelalter oft die Aufgabe, eigene Piyyutim zu dichten und zu vertonen. In St. Aposteln gestaltet die jüdische Frühe-Musik-Spezialistin Corina Marti, die an der renommierten Schola Cantorum Basiliensis unterrichtet, gemeinsam mit dem Counter-Tenor Doron Schleifer aus Israel, ein Programm mit früher jüdischer Synagogalmusik. Die Quellen dieser Musik sind oftmals verloren. Corina Marti nähert sich der Aufführungstradition an, indem sie Fragmente und Überlieferungsspuren neu kombiniert. Chasan Jalda Rebling singt dazu Psalmen. Für lange Zeit war in der orthodoxen jüdischen Liturgie der Chasan, der Kantor, der Träger der Liturgie. Instrumente oder Chorgesang waren nicht möglich, weil die fortwährende Trauer über die Zerstörung des Tempels in Jerusalem Musik undenkbar sein ließ. Erst im 19. Jahrhundert reformierten liberale Gemeinden ihre Liturgie und ließen Instrumente zu.

Wenig bekannt ist, welche wichtigen Impulse jüdische Musiker zur Entwicklung des Jazz beitrugen. George Gershwin und Komponisten wie Irving Berlin oder Kurt Weill lieferten die Vorbilder für zukünftige Jazz-Standards. In der Antoniter Kirche improvisieren Heiner Wiberny, drei Jahrzehnte Lead-Saxophonist der WDR-Bigband Köln, und Keyboarder Johannes Quack über bekannte Songs der drei großen Swing-Klassiker Gershwin, Weill und Berlin.

Viele Komponist*innen, die die Shoah überlebten, haben in ihrem Werk sehr persönliche Zeugnisse über diese Zeit abgelegt. So auch Iván Eröd, dessen Bruder in Auschwitz ermordet wurde. Er selbst kam durch glückliche Zufälle davon und emigrierte nach dem Krieg aus Ungarn nach Österreich. Sein unbedingter Glaube an die Würde des Menschen hat der Komponist in seinem A-capella-Chorstück „Nobilitas Hominis“, das 2018 kurz vor seinem Tod entstand, bewegend Ausdruck gegeben. Der lateinische Text zu dem Stück stammt aus den berühmten „Carmina burana“, einer Sammlung mittelalterlicher Gedichte, der beschreibt, wie die Würde des Menschen zu bewahren sei: durch Mäßigung, Vertrauen und die Wahrung des Rechts. Für den verstorbenen Musiker Iván Eröd schon zu Lebzeiten absolut aktuelle Werte. Das neugegründete Vokalensemble Cantus Novus Köln singt unter Leitung von Matthias Bartsch.

Der bekannteste jüdische Kölner Komponist ist Jacques Offenbach. Vor gut 200 Jahren als Sohn des Chasans der Kölner Synagoge geboren, machte er in Paris als „Erfinder der Operette“ Weltkarriere. Seine ersten Kompositionen hatte Vater Isaak in einem  Notenheft aufgeschrieben, einem kürzlich wiederentdeckten musikalischen Familienalbum mit Werken, die er selbst auf der Gitarre begleitete. Dana Marbach und Izhar Elias spielen die schönsten Stücke des Albums, und der Isaak Offenbach-Experte und Autor Prof. Jürgen Wilhelm liest aus seinem Buch über das jüdische Köln zur Zeit der Offenbachs.

Eben jener Vater von Jacques Offenbach, Isaak Offenbach war vor 1848 ein exponierter Teilnehmer eines Streits, der für die jüdische Musikgeschichte von wichtiger Bedeutung ist. Wie weit, so damals die Frage, sollte sich die sakrale jüdische Musik von christlichen Traditionen inspirieren lassen? Wäre eine Orgel in der Synagoge vielleicht ein passendes, gar innovatives Instrument? Darüber gingen im 19 Jahrhundert die Meinungen weit auseinander. Gerade die traditionell orientierten, orthodoxen jüdischen Gemeinden lehnten sie ab, während die Reformgemeinden vielerorts in Deutschland - auch in Köln - Synagogalorgeln bauen ließen. Für diese Orgeln entstand ein reichhaltiges Kompositionsrepertoire. Komponisten wie Louis Lewandowsky oder Joseph Sulzer schrieben Werke, die heute viel zu wenig bekannt sind, nachdem die meisten Synagogenorgeln in der Pogromnacht durch die Nationalsozialisten vernichtet wurden. Matthias Bartsch spielt in St. Agnes.

Mordechai Gebirtig war jiddischer Liedermacher. Seine poetischen Lieder handeln vom Leben im Krakauer jüdischen Stadtteil Kazimierz, von Rabbis und Fabrikarbeitern, von Gangstern und Liebenden. Kölns Opernstar Dalia Schaechter und Gitarrist Christian von Götz erinnern an den vergessenen Künstler aus dem Krakauer Ghetto. 

Die heute als klassisch empfundene moderne Musik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist geprägt von Komponisten mit jüdischen Wurzeln wie Arnold Schönberg, Erwin Schulhoff oder Erich Wolfgang Korngold. Das Kölner Asasello-Quartett kombiniert einzelne Sätze aus deren Werken mit Musik von Fanny und Felix Mendelssohn.

Dem Namen nach ist das Karmel-Gebirge im Norden Israels am Mittelmeer der „Weinberg Gottes“. Die üppige Vegetation inspirierte den israelischen Komponisten Avishai Ya’ar zu seiner Meditation "To a pine tree on mt. Carmel" für Blockflöte solo. Michael Hell interpretiert eines der Schlüsselwerke für die moderne Blockflöte und stellt ihm die Psalm-Variationen des Renaissancekomponisten Jacob van Eyck gegenüber. 

Das Vokalquintett Die Daffkes aus Leipzig stellt sich der Frage, was denn das Glück sei, im Rautenstrauch-Joost-Museum - mal nachdenklich, mal euphorisch. Ob mit den Melodien von Friedrich Hollaender, den kessen Vokalsätzen der Comedian Harmonists oder den sehnsuchtsvollen Chansons von Kurt Weill, die Daffkes sezieren die Sehnsüchte der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und finden überraschende Übereinstimmungen zu heute.

Eine Reise durch Klänge unternimmt der in Israel geborene und in Berlin lebende Flötist Roy Amotz. Er spielt auf verschiedenen Flöten-Werke aus der Musikgeschichte und verbindet diese durch Erzählungen. Das Spannungsfeld seines Musikprogramms bewegt Johann Sebastian Bach und Joachim Stutschewsky, dem wichtigsten Theoretiker der „Neuen jüdischen Schule“ der Komposition. Außerdem erklingen Stücke von jungen Komponist*innen aus Israel.

Ein Special findet schließlich in der Kölner Synagoge statt: Natalia Moro malt mit Sand und erzählt dabei mit den Schauspieler*innen und Musiker*innen Alexandra Lowygina und Sven Tjaben Geschichten von Reise und Flucht, von menschlicher und göttlicher Weisheit, vom Verlieren und Wiederfinden und von der Poesie der Vergänglichkeit. Jiddische und russische Lieder verweben sich mit Gedichten der Kölner Schriftstellerin Hilde Domin, traditionellen Erzählungen und Eigenkompositionen. Mit dabei: die Multi-Instrumentalist*in Verena Guido.

SHALOM-MUSIK.KOELN hat für sein Programm jüdische Künstler*innen aus ganz Deutschland engagiert, die für ein breites Publikum ohne Spezialkenntnisse einzelne, besonders interessante Musikstücke beleuchten. Die Auswahl haben die Künstler*innen selbst getroffen, einige von ihnen entwickelten eigens für SHALOM-MUSIK.KOELN neue Programme. Die beteiligten Kirchenmusiker haben selten gespielte Werke ausgewählt.   Das Kölner Forum für Kultur im Dialog e.V., die Stadt Köln, die beiden großen Kirchen und die Synagogen-Gemeinde Köln präsentieren mit SHALOM-MUSIK.KOELN ein abwechslungsreiches Kulturprogramm, das Begegnung schafft.

Das Kölner Forum für Kultur im Dialog e.V. initiiert und veranstaltet die frei zugängliche Konzertreihe SHALOM-MUSIK.KOELN – Ein Tag mit jüdischer Musik. Der Tag ist eingebunden in das bundesweite Festjahr #2021JLID und wird gefördert vom Land NRW und der Stadt Köln.

Thomas Höft arbeitet als Autor, Regisseur und Dramaturg. Er ist mit zahlreichen Theaterstücken und Opernlibretti bekannt geworden, u.a. für die Deutsche Oper Berlin, die Komische Oper Berlin und die Bregenzer Festspiele. Bisheriger Höhepunkt war 2010 an der Wiener Staatsoper die Uraufführung von Thomas Höfts Oper „Pünktchen und Anton“ nach Erich Kästner zur Musik von Iván Eröd. Seit 1994 arbeitet Thomas Höft als Dramaturg des Festivals styriarte Graz, das für Nikolaus Harnoncourt gegründet wurde. Seit 2003 ist er auch Dramaturg des Osterfestivals Psalm. Zudem war er Intendant des Brandenburger Theaters, der Bewerbung Augsburgs zur Kulturhauptstadt Europas und des Festjahres Pax2005 zum Jubiläum des Augsburger Religionsfriedens. Von 2012 bis 2018 war er Direktor des Kölner Zentrums für Alte Musik (ZAMUS) und Künstlerischer Leiter des Kölner Festes für Alte Musik. 2018 und 2019 verantwortete er die Dramaturgie der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci. Als Gründer und Vorstand der Kölner Offenbach-Gesellschaft war Thomas Höft an der Vorbereitung des großen Offenbach-Jubiläums 2019 beteiligt. Zudem war er 2019 Co-Curator des Festivals Oude Muziek in Utrecht. Mitgründer der Vereine Originalklang e.V. und ĀRT HOUSE